Über die Literatur

Wegweisende Gedanken über die „Roma-Literatur“ in Ungarn

André Raatzsch

Ich wage die Behauptung, dass es eine „Roma-Literatur“ gibt, eine durchaus mögliche „Roma-Literatur“, die zu ihrem jeweiligen Gebrauchswert in eine Textsituation gelangt, genauer gesagt, deren Voraussetzung gerade darin besteht, ihren Gebrauchswert aufzuzeigen.[1]

Diese Einführung möchte nicht nur die sogenannten „Roma-Autoren“ aus Ungarn auflisten. Vielmehr möchte sie die Aufmerksamkeit auf „die Texte“ richten und auf folgende Fragestellungen hinweisen: In welcher Lebensrealität des Autors, in welchem geschichtlichen Kontext Europas sind die Werke entstanden? Welcher Zeitgeist herrschte damals und heute in Europa und in Ungarn, und in welchem Rahmen kann man überhaupt von der „Roma-Literatur“ sprechen?

Die stereotypisierenden medialen Repräsentationen „der Roma“, die exotisierenden und Klischee bildenden Vorstellungen und Halbwahrheiten können die LeserInnen bei einer verstehenden Aufnahme des Textes stark beeinflussen. Es kann in bestimmten Fällen nicht mehr zwischen einer ethnischen Falle der Rezeption und der literarischen Qualität entschieden werden, da nicht mehr nach dem inhaltlichen Gebrauchswert des Textes gesucht wird, sondern nach dem exotischen. Die sogenannten „Roma-Autoren“ haben nicht die Aufgabe, „die Roma“ zu repräsentieren, sondern sollten wie alle anderen Autoren als Individuen anerkannt werden und Teil der europäischen literarischen Landschaft werden. Die „Roma-Literatur“ kann erst dann Bestandteil des europäischen literarischen Kanons werden, wenn es zur Veränderung des Bewusstseins von Verlegern, literarischen Verbänden, Kritikern und Historikern in den jeweiligen Ländern kommt.

Diese kurze Zusammenfassung soll einen Überblick über die Situation und Entwicklungen in Ungarn zwischen dem Jahre 1945 und der Gegenwart vermitteln.

Zuallererst muss auf die Literaturgeschichte von Gintli[2], ein Lehrbuch für Studenten, hingewiesen werden. Aus der Studie von Imre D. Magyari[3] geht hervor, dass Gábor Schein vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis Anfang der 1970er Jahre, quasi bis heute einen Überblick über die zeitgenössische ungarische Literatur gibt, wo von den „Roma-Autoren“ jedoch nur Béla Osztojkán erwähnt wird (S.1046–1047) – im Zusammenhang mit der Erneuerung des historischen Romans. In anderen literaturhistorischen Werken werden von den „Roma-Autoren“ nur ab und zu die Namen Károly Bari und Menyhért Lakatos sowie allenfalls József Holdosi genannt. Ganz entfallen sind Attila Balogh, József Choli Daróczi, Tamás Jónás, József Kovács Hontalan, György Rostás Farkas, József Szepesi oder Magda Szécsi. Für die zeitgenössische ungarische Literatur ist auch das zunächst zwischen 1975 und 1977 erschienene, von József Choli Daróczi herausgegebene Blatt Rom Som unbekannt.

Den einzigen umfassenden Überblick über die ungarischen „Roma-Autoren“ bietet die 2009 geschriebene Doktorarbeit von Zoltán Beck mit dem Titel Schriftstücke der Romologie – auf dem Wege zu einer erzählbaren Romologie. In der zweiten Hälfte dieser Doktorarbeit befasst sich Beck mit der „Roma-Literatur“. Er will einen Terminus technicus schaffen, der einen wissenschaftlichen Diskurs ins Leben rufen könnte, vermeidet aber bewusst die Falle der Ethnisierung. Denn wenn ich ein Buch in der Hand halte, möchte ich es nicht wegen der ethnischen Herkunft des Autors lesen, sondern wegen des Inhaltes, aufgrund dessen ich meine Sichtweisen hinterfragen kann, aufgrund dessen ich unseren Zeitgeist besser verstehen kann und aufgrund dessen ich mich selbst transformieren kann.

Berlin, 03.10.2013


[1]     Beck, Zoltán: A romológia írása – egy elbeszélhető romológia felé [Schriftstücke zur Romologie – auf dem Wege zu einer erzählbaren Romologie]. Pécs, 2009. Manuskript. Im Prinzip erreichbar unter nevtudphd.pte.hu.

[2]              Gintli,Tibor (Herausgeber): Magyar irodalom [Ungarische Literatur]. Budapest, 2010, Akadémiai. (Akadémiai Kézikönyvek.).

[3]     D. Magyari, Imre, A magyarországi cigány irodalom (hiánya) a reprezentatív irodalomtörténetekben [(Mangel der) Roma-Literatur in Ungarn in den repräsentativen Literaturgeschichten] Quelle: www.forrasfolyoirat.hu/1209/ magyari.pdf (03.10.2013).

 

Abriss der Entwicklung der „Roma-Literatur“ in der Tschechoslowakei und in Tschechien

Lukáš Houdek

Während für die ältere Generation der Roma-Schriftsteller in der Tschechischen Republik das Schreiben vorwiegend ein Mittel zur Aufzeichnung, Vermittlung und Weiterentwicklung des Romanes war, bedient sich die jüngere individueller Themen und Stile.

Schriftstellerisches Schaffen auf Romanes ist im tschechoslowakischen Kontext etwas durchaus Neues. Erst Mitte der 1950er Jahren begannen die ersten zaghaften schriftstellerischen Versuche von Roma in der damaligen Tschechoslowakei. Erst durch den Verband der Zigeuner-Roma (tschechisch Svaz Cikánů-Romů) entwickelte sich zwischen 1969 und 1973 im Zuge des Prager Frühlings die erste Organisation, die sich mit der Förderung der Roma-Kultur und den sozioökonomischen Problemen dieser Bevölkerungsgruppe beschäftigte. Dadurch erhielten Roma-Schriftsteller eine Plattform für ihr künstlerisches Schaffen – sowohl auf Tschechisch als auch in ihrer Muttersprache.

Der sprachwissenschaftliche Ausschuss des Verbands arbeitete die Romanes-Rechtschreibung aus und es sah so aus, als habe er den richtigen Nerv getroffen, denn immer mehr Roma bezeugten ihr Interesse, ihre Werke in der Verbandszeitschrift Romano ľil/Romský list (ins Deutsche etwa mit „Roma-Blätter“ zu übersetzen) zu veröffentlichen. Während der Normalisierung – die Zeit des gesellschaftlichen und kulturellen Rückzugs nach der Niederschlagung des Prager Frühlings – jedoch wurde der Verband zwangsweise aufgelöst und so wurden auch alle schriftstellerischen Bestrebungen auf Eis gelegt. Das Regime verdeutlichte somit, dass es sämtliche Initiativen zur Stärkung des Selbstbewusstseins der Roma und zur Förderung deren kultureller und geistiger Entwicklung nicht dulden würde.

Die Werke der Roma-Schriftsteller, die weiterhin von der späteren Gründerin der tschechischen Romanes-Linguistik, Milena Hübschmannová, unterstützt wurden, verschwanden somit in der Versenkung – es sei denn, die Roma-Schriftsteller erhielten Jahre später die Möglichkeit, ihre Werke in vom Regime tolerierten Theater- und Musikensembles zu präsentieren. Daher wurden bis zur Samtenen Revolution 1989, dank Hübschmannovás Engagements, nur drei Werke in sehr geringer Auflage und als einzeln unverkäufliche Werke publiziert.

Der Boom der Roma-Literatur

Erst nach 1989 verzeichnete die Roma-Literatur ihren wahren Aufschwung. Zwar verschlechterte sich die sozioökonomische Situation der meisten Roma nach der Samtenen Revolution deutlich, aber immerhin förderte die neue Regierung Publikationen in den Minderheitensprachen sowie ethnische Literatur.

So kam es, dass der neu gegründete Verlag Romaňi čhib (Sprache der Roma) zum ersten Mal seine Belletristik-Ausgabe veröffentlichte, zahlreiche Erzählungen und Gedichte von Roma-Schriftstellern in Roma-Magazinen publiziert wurden und Roma-Verbände Sammlungen ausgesuchter Schriftsteller herausgaben.

Inzwischen werden weniger Bücher von Roma-Schriftstellern veröffentlicht, dafür aber fast nur von renommierten Verlagen, die auf Form und Qualität des herausgegebenen Werks Wert legen und wesentlich mehr potentielle Leser ansprechen können – im Gegensatz zu den meisten gemeinnützigen Organisationen, denen die Mittel für Werbung und Vertrieb fehlen.

Schreiben gegen das Vergessen

Das literarische Schaffen der Roma fußt in der Tschechischen Republik auf einer durch und durch erzählerischen Tradition. Einige der älteren Schriftsteller sagen heute über ihre schriftstellerische Motivation, dass es ihnen in erster Linie darum ging, die außergewöhnlichen Märchen oder aus dem Leben gegriffene, mündlich überlieferte Erzählungen ihrer Vorfahren fest zu halten. Einiger der Schriftsteller hatten es sich jedoch auch zur Aufgabe gemacht, der Mehrheitsbevölkerung das Leben der Roma und deren besondere, häufig schwer nachvollziehbare Problematik näher zu bringen und Verständnis dafür zu wecken.

Die Prosaschriftstellerin Ilona Ferková aus dem westböhmischen Rokycany, beschreibt in ihren Erzählungen häufig wahre Begebenheiten, die Roma in ihrem unmittelbaren Umfeld erleben und reflektiert die Assimilationsversuche des kommunistischen Regimes und deren vernichtende Folgen für das Leben der Roma. In ihren Werken kritisiert sie auch gewisse Verhaltensweisen devianter Roma, die sie sich wegen ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Entwurzelung angeeignet haben. Die Lage der Roma wird von der Autorin auf äußerst prägnante Art und Weise geschildert.

Nach dem Krieg kamen zahlreiche Roma aus der slowakischen Provinz in die tschechischen Industrie-Städte um dort zu arbeiten. Der Staat wiederum betrieb eine massive Assimilationspolitik. Diese beiden Phänomene hatten zur Folge, dass die traditionellen gesellschaftlichen und familiären Bande der Roma-Gemeinschaft zerrissen wurden. Zwar verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der meisten Roma deutlich, dennoch blieben sie für die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung „die Zigeuner“. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass einige von ihnen sich bemühten, die traditionellen Werte, sowie die Sprache der Roma schrittweise aufzugeben und sich der Bevölkerungsmehrheit anzupassen – in der Hoffnung, schließlich von dieser akzeptiert zu werden. Dazu kam es jedoch nur in den wenigsten Fällen, weshalb die Roma sich in einem Vakuum, irgendwo zwischen beiden Welten, wiederfanden.

Ähnlich wie Ferková thematisiert Andrej Giňa, ein weiterer Autor aus Rokycany, die sozialen Umbrüche und den Verfall der Werte und Traditionen der Roma in seiner Prosa. Giňa zeigt jedoch unter anderem auch die humorvollen, bisweilen tragikomischen Aspekte des Zusammenlebens mit den Roma aus Rokycany auf. Manche seiner Werke beruhen auf wahren Begebenheiten, andere haben einen märchenhaften Charakter. Bereits Mitte der 1960er Jahre schrieb er Erzählungen nieder, die ihm seine Mutter, eine begnadete Geschichtenerzählerin, schilderte.

Die Bedeutung der Vergangenheit

Viele Autoren kehren mithilfe ihrer Prosa zurück in die Vergangenheit, erinnern sich an Personen, die entweder für ihr persönliches Leben oder für die Gemeinschaft eine besondere Rolle gespielt haben.

Die Schriftstellerin Eva Danišová huldigt in ihren kurzen, humorvollen Erzählungen ihrer eigentümlichen Großmutter, die sie erzog und der sie laut eigener Aussage verdankt, wer sie heute ist. Obwohl sich Eva Danišovás Großmutter als Analphabetin und wegen ihrer Impulsivität zum Gespött der Nicht-Roma machte, wird sie von der Autorin als weise, integere Frau beschrieben, die bereit war, alles für ihre Enkelin zu tun.

Genau diese Missverständnisse zwischen der älteren Roma-Frau aus der Ostslowakei und der nicht-Roma Bevölkerung der tschechischen industriellen Kleinstadt sind die Leitmotive von Danišovás Erzählungen. Auf humorvolle Art und Weise beschreibt die Autorin zudem die ständigen Auseinandersetzungen zwischen der Großmutter und dem weltmännischen Großvater.

Die Roma-Schriftstellerin Irena Eliášová, deren Werke heute zu den am meisten publizierten gehören, weicht hingegen nicht selten von der Thematik „das Leben der Roma“ ab und konzentriert sich stattdessen in ihren dynamischen, dialogisch aufgebauten Werken auf witzige Ereignisse ihres persönlichen Alltags: beispielsweise in ihrer von Situationskomik geprägten Erzählung Zánět (Deutsch: „Die Entzündung“), die im Wartezimmer spielt. Irena Eliášová schreibt aber auch über verschiedenste gesamtgesellschaftliche Probleme, wie zum Beispiel über Obdachlosigkeit, oder Einsamkeit im Alter und Frauenhandel.

Ähnlich wie Danišová liegt der Fokus von Jana Hejkrlíková vor allem auf der Beschreibung ihrer weisen Großmutter, die „mit Gott, der Tradition der Roma und

dem Stolz im Herzen lebte“. Im Gegensatz zu Danišová jedoch schlägt Hejkrlíková, neben humorvollen Passagen, auch sozialkritische Töne an und spielt auf die Assimilationsversuche des kommunistischen Regimes an. In ihren Texten geht es beispielsweise um fremdenfeindliche Lehrerinnen, oder um die Rückkehr des verlorenen Sohns Šandor, der noch als kleines Kind der Großmutter weggenommen und in ein Heim gesteckt worden war.

Von der Erzählung zur Intimität

Obwohl die volkstümliche Literatur wie auch die Erinnerungsliteratur von Roma-Autoren häufig als Genres gewählt werden, entstehen immer häufiger individualisierte und intime Texte, in denen das Leben der Roma weder das Leitmotiv noch den Rahmen darstellt. So versucht Jana Hejkrlíková in ihren neuesten Werken den Tod ihres Mannes zu verarbeiten und offenbart dem Leser ihre persönlichsten Gefühle und Ängste angesichts ihres Lebens ohne den geliebten Partner.

Im Gegensatz zu den Autoren der älteren Generation geht es den meisten jüngeren Schriftstellern, die unter ganz anderen Umständen aufgewachsen sind, nicht mehr um das Leitmotiv „traditionelles Roma-Leben“ oder „Roma-Folklore“. Während für Erstere die Entwicklung des Romanes einer der Hauptbeweggründe für ihr Schreiben ist (weshalb sie auch entweder zweisprachig oder nur auf Romanes schreiben), spielt dieser Aspekt für die Jüngeren keine Rolle mehr – nicht zuletzt deshalb, weil viele von ihnen des Romanes nicht mehr aktiv mächtig sind und es nicht die Sprache ist, in der sie ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken. Diese Autoren lehnen es daher ab, den Stempel „Roma-Schriftsteller“ aufgedrückt zu bekommen, denn dieser bürdet ihnen eine gewisse Erwartungshaltung der breiten Öffentlichkeit auf, bzw. verleiht ihnen das Stigma des „Roma-Wunderkinds“, das es geschafft hat, den Klischees des Roma-Lebens zu entkommen.

Die junge Dichterin Renáta Berkyová schreibt in ihren Versen über das Gefühl, von ihrem Partner verraten worden zu sein, über die Flüchtigkeit der Liebe und über Zukunftsängste. In ihren Gedichten beschreibt sie häufig fast statische und emotional angespannte Situationen, die es dem Leser eiskalt über den Rücken laufen lassen.

Die bekannte Horrorschriftstellerin Erika Olahová wiederum beeindruckt durch ihren sehr spezifischen Stil, der fast filmische Bilder entstehen lässt. In ihren Fantasy-Werken beschäftigt sie sich häufig mit den Themen häusliche Gewalt, Machtlosigkeit und Tod. Obwohl sie ausdrücklich keine Texte verfasst, die aus der Roma-Thematik schöpfen, können in ihren Werken dennoch romaspezifische Elemente, wie z.B. Religiosität und traditionelle Familienbande festgestellt werden. Außerdem schreibt Erika Olahová humoristische Texte, die weniger bekannt sind und bei denen sie sich von Szenen aus ihrem persönlichen Leben inspirieren lässt.

Übersetzung: Anna Tauc,

Copyright: Goethe-Institut, Prag